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DSAG-Expertengespräch: „Keine Zeit für Bedenkenträger“

Der Fachkräftemangel ist allgegenwärtig, Experten sprechen sogar teilweise bereits vom Arbeitskräftemangel.

DSAG-Expertengespräch: "Keine Zeit für Bedenkenträger"

Im Vorfeld des Kongresses hat die DSAG zudem mit Wolfgang Brickwedde gesprochen. Er ist Director des Institute for Competitive Recruiting und geht im DSAG-Expertengespräch unter anderem den Fragen nach, wie ein guter Recruiting-Prozess aussieht und welche Rolle Technologie dabei spielt – und spielen sollte.

Herr Brickwedde, inwiefern haben Unternehmen ihr Recruiting an die Corona-Situation angepasst?

Wolfgang Brickwedde: Anfangs ging es vor allem um die Fragen: Was machen wir mit den Bewerberinnen und Bewerbern im laufenden Prozesse, die interviewt werden müssen? Wie gestalten wir das On-Boarding der Mitarbeitenden, die neu angefangen haben? Das hat sich dann weiter entwickelt bis zu: Was müssen wir in der Corona-Zeit oder danach anbieten, um interessant für potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten zu sein? Reagiert haben die Unternehmen indem z. B. sofort Video-Interviews realisiert wurden. Zudem wurde der ganze Recruiting-Prozess digitalisiert. Einige Unternehmen haben das binnen einer Woche geschafft. Es war nicht die Zeit der Bedenkenträger. Die letzten Jahre haben gezeigt: Es geht und es tut sich einiges in der Personalsuche und -auswahl.

Welche Alternativen zu virtuellen Vorstellungsgesprächen gibt es und was müssen Unternehmen bei dieser Art der Gespräche beachten?

Einige Unternehmen haben Bewerbungsspaziergänge angeboten. Sie sind also mit den Bewerberinnen und Bewerbern über das Firmengelände gegangen, haben Einblicke in die Arbeitsrealität gegeben, das Gebäude gezeigt und konnten so die Corona-Regeln einhalten. Was die virtuellen Vorstellungsgespräche anbelangt, geht es erstmal darum, den Bewerberinnen und Bewerbern die Sorge um technische Probleme zu nehmen. Auch nach Jahren mit Videokonferenz-Systemen kommt immer noch als erstes die Frage: ‚Hören Sie mich?‘ Hier sollte das Unternehmen vorab die Sorge nehmen, dass es keinen negativen Einfluss auf das Auswahlgespräch selbst hat – vielleicht kann auch vorab ein technischer Test angeboten werden.

Welche Tipps haben Sie für Unternehmen, um der Bewerberin bzw. dem Bewerber ihre Marke bei rein virtuellen Vorstellungsgesprächen nahezubringen?

Normalerweise läuft ein Employer-Branding-Prozesse oder Attraktivitätsprozess viel früher ab. Die Bewerberinnen und Bewerber beschäftigten sich ja im besten Fall schon vor dem Bewerbungsgespräch mit der Marke. Hier können Unternehmen z. B. Videos produzieren, um ihre Arbeitsräume zu zeigen, damit die Kandidatinnen oder Kandidaten einen Eindruck bekommen, wie es wäre, im Büro zu arbeiten. Dann könnten sich Unternehmen überlegen, wie sie Goodies oder Benefits auch dezentral in die Homeoffices bringen. Obst oder Blumen kann man ja z. B. gut verschicken. Hier müssen Unternehmen kreativ werden.

Gibt es einen kreativen Schachzug, um Bewerberinnen und Bewerber zu überzeugen?

Eine Silver-Bullet gibt es nicht, denn jede Bewerberin und jeder Bewerber hat unterschiedliche Bedürfnisse. Was jedoch in der Corona-Zeit wichtiger für Arbeitnehmende geworden ist, ist die Frage nach dem Sinn. Hier können Unternehmen ansetzen. Ich spreche immer von den drei „S“: sinnhaft, spannend, sicher. Die Bewerberin oder der Bewerber muss einen Sinn in der Tätigkeit erkennen können. Die Aufgabe muss spannend sein. Im IT- oder Software-Bereich können das z. B. interessante Projekte sein. Es darf nicht langweilig sein. Zudem muss der Arbeitsplatz Sicherheit bieten. Bis zu zwei Drittel der derzeitigen Arbeitnehmenden sind wechselbereit – aber sie wissen nicht genau, wohin sie wechseln sollen und ob die neuen Arbeitgeber gut mit ihnen umgehen. Unternehmen, die diese drei „S“ anbieten, decken einen Großteil der aktuellen Bedürfnisse ab.

Gibt es noch weitere Aspekte, um die Attraktivität zu steigern?

Homeoffice ist ein Aspekt. Einige Unternehmen experimentieren auch bereits mit Vier- statt Fünf-Tage-Wochen. Neben drei „S“ ist die Arbeitsorganisation eine Stellschraube, an der Unternehmen drehen können. Das gilt aber nur für 25-30 Prozent der Menschen am deutschen Arbeitsmarkt.

Wie sieht ein guter digitaler Recruiting-Prozess aus?

Das ist zielgruppenabhängig. Suchen Unternehmen z. B. jemand für eine Helfertätigkeit, sollten sie die Bewerberin oder den Bewerber nicht zwingen, ein Anschreiben zu verfassen und einen Lebenslauf zu schicken. Wenn die Qualifikation darin besteht, einen Führerschein zu besitzen, Schicht arbeiten zu wollen und in der Lage zu sein, 20 Kilogramm zu heben, lässt sich so ein Bewerbungsprozess sicher anders gestalten. Mit Voice-Recruiting ließen sich dann z. B. einfach im Smartphone die Fragen über einen Chatbot stellen und die Bewerberinnen und Bewerber können sie sofort beantworten – ohne, dass sie etwas schreiben müssen. Das wäre ein sehr einfacher, praktischer digitaler Prozess. Bei Jobs im kreativen Bereich, wo es darauf ankommt, auch mal eine Arbeitsleistung zu zeigen, sieht das anders aus. Aber auch da gilt es, Hürden zu nehmen.

Inwiefern?

Je kürzer die Formulare sind, desto höher ist die Bewerbungsrate. Es geht erstmal darum, durch eine kürzere Bewerbung mit den Menschen in Kontakt zu kommen. Parsing-Technologie kann die Bewerbung erleichtern – also, dass man die Lebensläufe, Xing- oder LinkedIn-Profile einfach in das Bewerbungsformular einbindet. Das zeigt zudem Wertschätzung. Die meisten Bewerber-Management-Systeme oder -Verfahren sind für einen Massenandrang – hohe Mauern, ganz kleine Tür, Stacheldraht oben drauf und ganz wenige kommen rein. Ich höre häufig, dass Unternehmen für ihre Software- oder Engineering-Stellen nur fünf bis sechs Bewerberinnen und Bewerber im halben Jahr haben. Bei einem solchen Recruiting-Prozess ist das kein Wunder. Die Menschen haben was anderes zu tun und Alternativen. Wer Abbruchraten von sechzig oder siebzig Prozent im Bewerbungsprozess hat, muss sich nicht wundern, dass so wenige Kandidatinnen und Kandidaten übrigbleiben.

Wie lautet also Ihr Tipp?

Hürden wegnehmen, wenn der Markt eng ist. Hürden, also Selektionsverfahren aufbauen, wenn Sie merken, dass hunderte Bewerbungen eingehen. Es lässt sich viel digitalisieren bzw. automatisieren. Im Bankenbereich z. B. ist viel automatisiert und es funktioniert. Doch wer ein paar Millionen auf der Bank hat, bekommt plötzlich einen persönlichen Betreuer, der sich um ihn kümmert. Übertragen auf das Recruiting stellt sich also die Frage: Haben die Talente, die mein Unternehmen sucht, nicht auch sehr viel Vermögen auf der Talent-Bank, weshalb wir sie dementsprechend behandeln sollten? Die Automatisierung ist nur Mittel zum Zweck. Sie unterstützt dabei zu erfahren, wen man wie am besten „human-to-human“ betreut, um die richtigen Talente zu finden.

In zwei Sätzen: Welche Rolle spielt die Software beim Recruiting auf Unternehmensseite allgemein & welche sollte sie spielen?

Aktuell ist Software noch eine Verbesserung für das Unternehmen. In Zukunft muss sie eine Verbesserung für die Bewerberinnen und Bewerber sein.

Was verbirgt sich hinter datenbasiertem Recruiting?

Datenbasiertes Recruiting bedeutet zu überlegen: Mache ich das, was ich mache, richtig, oder kann ich es anders machen? Dazu muss ich messen. Hier gibt es verschiedene Dimensionen. Das beginnt z. B. beim Besuch von Messen und geht bis zum Vergleich von Stellenanzeigen. Immer mit der Frage: Was funktioniert? Anders als bei „Post-and-pray“ schalte ich nicht einfach eine Anzeige und warte was passiert. Beim datenbasierten Recruiting weiß ich, welche Kanäle gut funktionieren – und dann kann ich meinen Recruiting-Prozess optimieren. Und so kann ich auch bei Stellenanzeigen vorgehen. Mittlerweile geht es auch bei Stellenanzeigen in Richtung Pay-per-Application, wobei die Bewerbung bezahlt wird, bis hin zu Pay-per-hire, wo nur bezahlt wird, wenn eine Einstellung erfolgt. Immer neue Technologien ermöglichen es zu messen und zu beurteilen, welcher Weg der richtige ist. Bei Stellenanzeigen wird aktuell Performance-Marketing großgeschrieben, wobei Software-gestützt die vermeintlich besten Kanäle bespielt werden. Einige Unternehmen haben das bereits getestet. Im Vergleich mit anderen Aktivitäten lässt sich damit messen, ob es sich nur um einen Hype handelt. Damit sind wir wieder beim datenbasierten Recruiting, also weg von der Entscheidung per Bauchgefühl, hin zum Evidenz-basierten Recruiting.

Wie können wir die technologischen Möglichkeiten wie Automatisierung, KI, Video, Matching, Augmented Writing etc. stärker nutzen im Recruiting?

Erstmal muss ich einen Recruiting-Prozess haben, um zu sehen, was ich digitalisieren bzw. automatisieren kann. Dazu kann gehören, Videos in Stellenanzeigen einzubauen oder auf Karriere-Webseiten zu platzieren. Einige Unternehmen bieten bereits jetzt die Möglichkeit, Lebensläufe oder Profile hochzuladen, um diese dann per Matching mit passenden Jobs abzugleichen. Das ist eine schöne Möglichkeit für die Bewerberinnen und Bewerber den richtigen Job zu finden und für die Recruiterinnen und Recruiter bei den Jobangeboten den Überblick zu behalten. Bei zweitausend Jobs ist ein Matching sehr praktisch. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten und Technologien, auch KI-basiert. Das klingt toll, bedarf aber vieler Datenpunkte. Wer als Unternehmen fünfzig oder einhundert Leute einstellt, wird nie auf die Datenmenge kommen, die den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Recruiting ermöglicht. Da geht es um fünfzehntausend oder fünfzehn Millionen Datenpunkte. Natürlich kann man KI-basierte Tools auch für Stellenausschreibungen nutzen. Wenn die Tools zwei bis drei Millionen Stellenanzeigen gescannt haben, können sie erkennen, welche Formulierungen besser funktionieren. Das können sie einsetzen, aber eben nicht auf der Basis unternehmenseigener Daten.

SuccessFactors ist laut SAP die einzige Recruiting-Software, die einen Ende-zu-Ende-Prozess anbietet. Wieso ist dieser beim Recruiting so erstrebenswert?

Ende-zu-Ende bedeutet von der Anforderungsanalyse bis zur Einstellung – wenn das alles in einem System ist, lässt sich gut messen und optimieren. Es bedeutet jedoch nicht automatisch, dass alle Module in diesem Ende-zu-Ende-Prozess die besten sind. Das ist die alte Frage zwischen Suite- und Best-in-Class-Lösung. Dass es eine Suite-Lösung gibt, die jetzt alle Best-in-Class-Lösungen vereint, habe ich noch nicht gesehen. Aber alle arbeiten daran. Die Grenzen einer Ende-zu-Ende-Lösung liegen in den einzelnen Modulen, die möglicherweise noch nicht Best-in-Class sind.

Am 21. und 22. Juni 2022 finden erstmals die DSAG-Personaltage in Kooperation mit der International Association for SAP Partners e.V. (IA4SP) statt. Im Mercure Hotel MOA in Berlin werden 450 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erwartet. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Veranstaltung in physischer Form geplant. Dennoch werden wir selbstverständlich die Entwicklungen und Auswirkungen der Covid19-Situation genau verfolgen, um vorausschauend agieren zu können.

Unter dem Motto „Orientierung in bewegten Zeiten – HR- und IT-Strategien im SAP-Kontext“ thematisiert der Kongress aktuelle Themen und Chancen im Personalwesen. Drei Keynotes, zahlreiche Vorträge und eine Ausstellung mit 25 Partnern gehen der Frage nach, wie sich das Personalwesen entwickeln muss, um die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu meistern.

Im Fokus dieses Themenfelds stehen aktuelle Lösungsansätze aus Sicht der Personalabteilungen und Führungskräfte, mit denen sie auf digitalem Weg Mitarbeitende zeitgemäß gewinnen, führen, coachen und unterstützen können. Hierzu gehören z. B. die Ablösung papiergebundener Prozesse, digitales Führen/Managen, Human-Experience-Management (HXM) und HR-Analytics.

Dieser Themenblock zielt auf internationale Aspekte ab, wie beispielsweise den Aufbau und das Management globaler HR-IT-Landschaften sowie den Aufbau und die Organisation internationaler HR-Abteilungen, Diversität und globale Use-Cases.

Dieser Schwerpunkt ergänzt den Themenblock „Digitale Mitarbeitendenführung“ und soll Lösungen bzw. neue Ansätze aus Sicht der Mitarbeitenden in den Mittelpunkt stellen, mit denen z. B. mehr Eigenständigkeit, Eigenverantwortung, Selbstführung und Selbstverwaltung ermöglicht werden. Dazu gehören u.a. ESS-Szenarien, Learning und UI-/UX-Themen.

Dieser thematische Bereich wendet sich insbesondere an technisch-orientierte IT-Verantwortliche für die HR-Systeme und beschäftigt sich beispielsweise mit Fragen rund um Migrationsszenarien, den Aufbau sowie die Steuerung hybrider IT-Landschaften und technischen Integrationsthemen.​

In diesem Block wird unter anderem folgenden Fragen nachgegangen: Wie soll sich eine HR-Abteilung für die Zukunft aufstellen? Wohin entwickelt sich das Personalwesen? Wie verändern sich Strukturen, Aufgaben, Methoden und Zusammenarbeitsmodelle mit internen sowie externen Stakeholdern? Und welche Tools bzw. technischen IT-Innovationen können auf dieser Reise unterstützen?

Wie lautet Ihre Empfehlung für Personalverantwortliche, die gerne einen Ende-zu-Ende-Prozess abbilden möchten, aber nicht von einer Suite überzeugt sind?

Die erste Frage, die sich stellt: Wer entscheidet überhaupt über die Software-Lösung oder über die Management-Lösung? Macht das die IT oder macht das HR? Wenn die IT das entscheidet, bekommt ein HR oft das, was sowieso mitgekauft wurde, und dann gibt es noch ein Modul dazu, das für Recruiting zuständig ist. Gleichzeitig kommt es darauf an, wie ausdifferenziert das Unternehmen ist. Ein mittelständisches Unternehmen, das gerade erst einen Recruiting-Prozess fertig hat, will vielleicht eher eine Suite-Lösung, die alles beinhaltet als ein Unternehmen, das weiter ist und eine Suite-Lösung noch um Best-in-Class-Lösungen erweitern möchte. Interessant sind hier offene Plattformlösungen, die es ermöglichen mit Best-in-Class-Modulen zu ergänzen.

Ist ein Schulterschluss von Personalverantwortlichen und IT notwendig, um zum bestmöglichen „Software-Ergebnis“ zu kommen?

Ja, das ist die Ideallösung. Es gibt aber auch Unternehmen mit HR-IT-Verantwortlichen, was ich für die beste Kombination halte. Wichtig ist es, dass sich HR und IT zusammensetzen und klären, wer überhaupt entscheidet und gemeinsam überlegen, was sie möchten und was gebraucht wird. Alles andere führt zu Frustration und zu Mehraufwand.

Was werden 2022 die größten Herausforderungen im Recruiting?

Die nächsten Trends haben mit einem Arbeitskräftemangel zu tun. Es ist kein Fachkräftemangel mehr. Mehr als 52 Prozent der Vakanzen haben inzwischen eine Besetzungszeit von mehr als 90 Tagen. In vielen Engpassbereichen kann die Zeit, in der Vakanzen offen sind, auch gerne mal auf bis zu 220 Tage hochgehen Der erste Trend ist, dass wir einen Arbeitnehmermarkt statt einem Arbeitgebermarkt haben werden. Zweitens werden wir Technologie vermehrt und smarter einsetzen. Gerade in der Corona-Zeit wurde viel ausprobiert und jetzt wissen die Unternehmen, was hilft. Drittens haben die Bewerberinnen und Bewerber andere Anforderungen. Stichwort: New Work. Homeoffice wird z. B. stärker nachgefragt und das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Recruiting. Und viertens gewinnt datenbasiertes Recruiting an Bedeutung.

Vielen Dank für das Gespräch!

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