Sicher wachsen
S/4HANA und Validierung bei Wörwag Pharma
Strenge Regulierungen sind in der Pharmaindustrie Gesetz, aufwendige Validierungsprozesse und scharfe Zulassungsrichtlinien inklusive. Deshalb hat sich Wörwag Pharma auf die sichere (IT-)Seite begeben, auf S/4HANA migriert und gleichzeitig ein Validierungsprojekt umgesetzt. Von Anfang bis Ende mit an Bord und verantwortlich waren Patrick Martin, Head of IT Applications, Clare Hirschle, Gesamtprojektleiterin S/4HANA, und Frank Sturm, Teamleader Global Quality Systems/Responsible Person for Good Distribution Practice (GDP).
Das Gespräch führte Sarah Meixner, blaupause-Redaktion
Bitte beschreiben Sie, welche Entwicklungen konkret zur Entscheidung für S/4HANA geführt haben.
Patrick Martin: Unser bestehendes SAP-Enterprise-Central-Component (ECC)-System, das wir On-Premise gehostet haben, war schlicht und ergreifend an seine Kapazitätsgrenzen gestoßen. Keine gute Basis für die weitere Expansion von Wörwag Pharma. Und natürlich, on top, das angekündigte Wartungsende von ECC in 2030 – alles Gründe, dass wir früh den Sprung auf S/4HANA gewagt haben, bevor die große Masse migriert und Dienstleister Mangelware werden.
Clare Hirschle: Hinzu kam, dass der Großteil unseres Enterprise-Resource-Planning (ERP)-Systems nicht validiert gewesen ist. Mit unserem Zukauf in Polen im Jahr 2021 für eine eigene Medikamentenproduktion kamen grundsätzlich alle Server und operativen Prozesse auf den Prüfstand, denn ab diesem Zeitpunkt waren validierte Prozesse natürlich ein Must-have für unser Unternehmen. Also haben wir entschieden: Wir machen beides in einem Aufwasch, S/4HANA und die Validierung für GxP-relevante Prozesse im Gesamtsystem. Denn bis auf wenige Prozesse hatten wir wie gesagt bis dato keine validierten Prozesse.
Wörwag Pharma GmbH & Co. KG
Das Pharmaunternehmen wurde 1971 gegründet und hat seinen Hauptsitz in Böblingen bei Stuttgart. Zu den Therapiegebieten zählen Diabetes und assoziierte Krankheiten, Erkrankungen des Nervensystems, Muskel- und Skeletterkrankungen sowie das Immunsystem. 2022 hat das Unternehmen mit rund 1.400 Mitarbeitenden in über 35 Ländern einen Umsatz von 291 Mio. Euro erzielt.
Welche Gründe sprachen dafür, sich für einen Bluefield-Ansatz zu entscheiden?
Hirschle: In den vergangenen Jahren hatten wir in unseren sieben ausländischen Gesellschaften SAP eingeführt. Und in diesem Zusammenhang hatten wir die bestehenden Prozesse bereits sehr genau angesehen, geprüft, anschließend standardisiert und entsprechend ausgerollt. Insofern sahen wir während des neunmonatigen S/4HANA-Vorprojekts 2021 keine Veranlassung, die komplette Prozess-Journey noch einmal von vorne zu beginnen. Die Prozesse liefen stabil, waren transparent, also gab es weder eine Basis noch einen Grund für Greenfield oder Brownfield. Bluefield war für uns, auch dank externer Unterstützung, attraktiv, um u. a. unsere Problematik mit der Datenmigration zu lösen, die Business-Partner komplett einzuführen und das Thema Archivierung anzugehen. Heute arbeiten ca. 300 User:innen mit dem neuen System.
Wo lag der Fokus während der Migration?
Hirschle: Wir haben uns von Beginn an sehr stark darauf fokussiert, die Anforderungen unseres Scopes immer im Blick zu haben: Was wollen wir ‚in‘ und was ‚out of Scope‘ betrachten? Denn auf unserer Agenda stand ja nicht nur S/4HANA, sondern auch das Infrastrukturthema, die SAP Analytics Cloud (SAC) und natürlich die Validierung mittels Computerized System Validation (CSV) – und noch vieles mehr. Genauso wichtig war aber auch die Baseline: Wie sieht die Timeline aus, wer unterstützt uns intern, wer extern, für wie lange blocken wir Ressourcen im Tagesgeschäft, wie sieht das Budget aus, und wie schreiben wir das Projekt öffentlich aus?
Gab es besondere Herausforderungen im Projekt? Und was hat Sie überrascht?
Martin: SAP sieht in der Public Cloud sehr kurze Release-Zyklen vor, die uns keine Zeit für die Validierung lassen. Das war auch der Grund, warum wir uns für die Microsoft Azure Cloud entschieden haben. Wir haben also den Betrieb unserer S/4HANA-Landschaft als Managed Service via Platform-as-a-Service (PaaS) ausgelagert. Die Umgebung gehört aber nach wie vor uns, so dass wir hier immer noch von allen On-Premise-Vorteilen profitieren, z. B. den Release-Zyklus für Wörwag passend bestimmen und durchführen zu können. Uns ist bewusst, dass der Weg in die Cloud geht, wir als Pharmaunternehmen aber stellenweise Anforderungen haben, die SAP aktuell nicht erfüllen kann, auch nicht mit RISE with SAP.
Gab bzw. gibt es spezielle Herausforderungen, die diese Aufteilung in PaaS und On-Premises notwendig machen?
Martin: Das Thema Validierung spielt für unser Unternehmen eine sehr wichtige Rolle – und SAP kann diese Anforderungen, die die Pharmabranche insgesamt betreffen, gerade nicht ausreichend bedienen. Unser Gefühl im Moment ist, dass wir im Bereich Validierung alleine gelassen werden. Und das trotz der aktuell verfügbaren Menge an Cloud-Applikationen und -Angeboten, denn wie bereits gesagt: Mit diesen extrem schnellen Release-Zyklen bleiben Validierungsfälle komplett auf der Strecke, und SAP entwickelt an den Nöten der Pharmabranche vorbei. Was nicht heißen soll, dass wir uns der Cloud verschließen, wir nutzen bspw. bereits SuccessFactors und auch die SAC. Aber: Wir fühlen uns nicht abgeholt!
Sie haben im Rahmen des Projekts eine Computerized System Validation (CSV) vorgenommen. Warum erfolgte das im Zuge der S/4HANA-Einführung?
Frank Sturm: Da wir nun auch selbst produzieren, braucht es viele neue und validierte Prozesse, auch für die Länderorganisationen. Und warum wir das gleichzeitig mit S/4HANA umgesetzt haben? Einfach wegen der vielen Synergieeffekte. Wir hatten bereits ein Projekt-Team aufgestellt, also entschieden wir uns dafür, die CSV-Validierung als Sub-Projekt in S/4HANA laufen zu lassen. Die Alternative hätte so ausgesehen, dass wir zusätzlich einen Validierungs- und einen technischen Partner gebraucht hätten, und hier war es einfacher, auf bestehende Ressourcen zuzugreifen. Und die Partner, die wir hatten, haben so nahtlos zusammengearbeitet, dass sich alles wie ein einziger Dienstleister angefühlt hat.
Welche Aufgaben genau hat das Validierung-Set-up mitgebracht?
Sturm: Die Digital Process Landscape (DPL) war das erste wichtige Dokument: Hier haben wir uns angesehen, welche Detailprozesse wir in SAP haben, welche wir überhaupt verwenden und welche davon GxP-relevant sind. Am Ende hatten wir von insgesamt 120 Prozessen etwa 32 identifiziert, die überhaupt GxP-relevant waren. Mit den jeweiligen Prozessverantwortlichen haben wir den neuen Prozess aufgebaut und validierungsseitig getestet – inklusive vieler Schulungen und Support, Stunde um Stunde um Stunde.
Gibt es einen Prozess, der essenziell ist?
Sturm: Gibt es. Dieser bucht unsere Waren beim externen Lageranbieter frei, und für uns ist es sehr wichtig, dass diese Schnittstelle funktioniert. Natürlich haben wir für jeden Teilprozess eine Risikoanalyse durchgeführt und auch eine Risikoklassifizierung vorgenommen. Auch deshalb profitieren wir heute von einer Prozesslandkarte, die einen aktuellen Gesamtüberblick unserer SAP-Systeme und -lösungen ermöglicht. Ich erinnere mich gut daran, wie wir den Validierungsreport an einem Sonntagabend unterschrieben und somit das Projekt erfolgreich abgeschlossen haben: Das war Freude pur!
War es notwendig nachzujustieren?
Sturm: Definitiv, und zwar beim Thema Schulen und Formulieren der Anforderungen. Wir hatten viele Rückläufer bei den ersten Validierungsdokumenten, die Anwender:innen hatten es anders verstanden als gedacht. Also haben wir noch mehr geschult. Und ganz wichtig: Keine Angst haben! Viele Kolleg:innen halten eine SAP-Validierung für eine schlimme Sache, ist sie aber nicht. Wichtig ist es hier, sich frühzeitig die richtigen Dienstleister ins Boot zu holen und nicht auf eigene Faust loszulegen. SAP erwartet bei Validierungen ein unglaublich großes Know-how, und das kann ein guter Dienstleister mitbringen. Alleine hätten wir es nicht geschafft, schlicht, weil wir auch gar nicht die Strategie hatten, ein solches System zu validieren. Hier Geld zu sparen, kann sehr schnell nach hinten losgehen, und man zahlt doppelt, da man später doch externe Expertise einkaufen muss.
Arbeitskreis Life-Sciences-Prozesse
Stark regulierte Prozesse und Validierung sind nur zwei der besonderen Anforderungen der Pharma- und Medizintechnik-Branchen an Software-Lösungen. Neben Best Practices und Validierung treibt der Arbeitskreis weitere Themen voran, wie Qualitätsmanagement-Prozesse, Audit und die Anforderungen an das Life-Sciences-Produkt-Portfolio.
Wörwag ist seit Ende November 2022 mit S/4HANA live. Was hat sich seither quantifizierbar geändert?
Martin: Ich halte das generell für eine schwierige Frage! So entsteht für die Verantwortlichen ein großer Druck, dass nach, oder besser gesagt: mit S/4HANA alles leichter wird, alles anders aussieht, alles schneller wird. Klar laufen Abfragen und Reports dank der HANA-Datenbank nun eindeutig schneller, aber die Migration ist ein anspruchsvolles Projekt, das seine Zeit braucht. Und bei einer Zwölfmonatsmigration wie bei uns ist meiner Meinung nach das schönste Kompliment, das wir von unseren User:innen bekommen können, dass es genau gleich aussieht. Wir aber wissen, dass im Hintergrund eine hochmoderne IT-Plattform läuft, die uns noch lange begleiten und bei all unseren Innovationen und Plänen unterstützen wird.
Vielen Dank für das Gespräch!
Bildnachweis: Wörwag Pharma GmbH & Co. KG, Shutterstock
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