Kliniken stark gefordert
Seit dem DSAG-Jahreskongress im Oktober 2022 ist klar: Es wird keine Nachfolge für die Branchenlösung SAP Patientenmanagement (IS-H) in der S/4HANA-ERP-Welt und für das klinische Informationssystem i.s.h. med von Partner Oracle Cerner geben.
Die Folgen des Rückzugs von SAP sind für Klinken und Krankenhäuser gravierend: Prioritäten müssen neu vergeben und Projektpläne überdacht werden.
Die Ankündigung von SAP fordert die IT von Kliniken und Krankenhäusern, die IS-H einsetzen. Sie müssen neue IT-Strategien erarbeiten und ihre Systemarchitektur überdenken. Im Klartext: Neben einem Großprojekt, um die kaufmännischen Module der SAP-ERP-Systeme abzulösen, müssen die Häuser auch jedes Krankenhausinformationssystem (KIS) ins Visier nehmen – so z. B. das KIS i.s.h.med von Oracle Cerner. KIS-Anbieter müssen entweder ihr vorhandenes Funktionsspektrum um die Patientenabrechnung und -administration erweitern, oder die Krankenhäuser benötigen eine zusätzliche Software, die sie in das KIS integrieren. Häuser, die i.s.h.med einsetzen, brauchen Klarheit, wie und wann Oracle Cerner eine verbindliche Nachfolgelösung, bestenfalls mit den nun fehlenden Funktionen, präsentiert.
Knappe Ressourcen, hohe Kosten
Die neue SAP-Healthcare-Strategie hat jedoch nicht nur auf die Planungen in den Kliniken und Krankenhäusern Einfluss, weiß Michael Pfeil, DSAG-Arbeitskreissprecher Healthcare: „Der personelle und monetäre Aufwand ist bei entsprechenden Projekten erheblich.“ Zudem hält der IT-Abteilungsleiter SAP/Betriebswirtschaftliche Applikationen beim Universitätsklinikum Bonn den angesetzten Zeitplan für abwegig. SAP hat für die Software SAP ERP Central Component (SAP ECC) eine Mainstream-Wartungszusage bis zum 31.12.2027 gegeben, an die sich eine kostenpflichtige, optionale Extended-Wartung bis Ende 2030 anschließt. Für IS-H wird es ab 2031 nur noch kundenspezifische Wartung geben. „Bis Ende 2027 sind die auf unsere Häuser zukommenden Aufgaben mit den vorhandenen Ressourcen nicht zu erfüllen – und die optionale Extended-Wartung ist ein enormer Kostenfaktor“, ordnet Michael Pfeil ein. Zudem verhindern der Digitalisierungsdruck und die Mammutaufgabe, über die Geschäftsprozesse im Bereich der Verwaltung nachdenken zu müssen, die Wartungsverlängerung als wirkliche Option.
Migration und Timing
Durch die strategische Entscheidung von SAP sind zum einen diejenigen im Zugzwang, die noch nicht auf S/4HANA migriert haben. Zum anderen diejenigen, die bereits eine Vertragsumwandlung (Conversion) vorgenommen und ein S/4HANA-Projekt gestartet haben. „Diese Krankenhäuser müssen ihre Migrationsstrategie inklusive Zeitplan überdenken. Und vor dem Hintergrund der Kosten und des Aufwands werden insbesondere kleinere Häuser möglicherweise prüfen müssen, ob sie an einer SAP-Lösung für den kaufmännischen Bereich festhalten müssen“, erläutert Tatjana Neitz-Kluge, stellvertretende Sprecherin des DSAG-Arbeitskreises Healthcare und hauptberuflich tätig bei der Universitätsmedizin Göttingen.
Ebenfalls herausfordernd dürfte es werden, Anbieter zu finden, die das Leistungsportfolio von IS-H abdecken können. SAP setzt allerdings voraus, dass dafür ausreichend Partner verfügbar sind. Insgesamt befürchten die DSAG-Expert:innen, dass die Häuser noch weitere Anbieter mit ins Boot holen müssen – insbesondere für die Patientenabrechnung.
Cloud auf dem Prüfstand
Mit der Ankündigung verfolgt SAP weiter einen Cloud-first-Ansatz, denn: Die Branchenlösung soll künftig über spezifische Datenmodelle und Schnittstellen in die Cloud zur Business Technology Platform (BTP) unterstützt werden. Die Ausgestaltung ist Sache der Partner. „Die Cloud-Nutzung im Klinikbereich ist nicht so ohne weiteres möglich – bevor die BTP im Kontext der Patientendaten genutzt werden kann, müssen Anpassungen erfolgen“, erläutert Michael Pfeil. Gefordert sei hier u. a. die Politik. Standards müssten etabliert, Ressourcen bereitgestellt und der Datenschutz geändert werden. Aus DSAG-Sicht sollten für Behörden und öffentliche Institutionen im jeweiligen Land Cloud-Instanzen aufgesetzt werden, denn nach Meinung von Christoph Wuczkowski, stellvertretender Sprecher der österreichischen DSAG-Arbeitsgruppe Gesundheitswesen, sind die „vorhandenen lokalen Private-Cloud-Angebote nicht für Gesundheitsdaten vorgesehen.“ Der hauptberuflich bei der Vinzenz Gruppe Krankenhausbeteiligungs- und Management GmbH tätige Experte weist zudem darauf hin, dass die Gesundheitsdaten 24/7 verfügbar sein müssen.
Branchenlösung auf S/4HANA
Nur wenige Tage nach der SAP-Veröffentlichung im Oktober 2022 hat bereits ein SAP-Partnerunternehmen angekündigt, eine Nachfolgelösung für IS-H auf S/4HANA anzubieten. Darüber hinaus stehen zusätzliche Innovationen im Raum. Die DSAG-Expert:innen begrüßen Vorhaben wie diese, da sie viele Kliniken und Krankenhäuser davor bewahren könnten, einen kompletten und aufwendigen Produktwechsel vollziehen zu müssen. Zudem ermöglicht eine frühzeitige Information, dass Infrastruktur bereits beschafft und S/4HANA-Projekte für die Prozesse in der Verwaltung aufgesetzt werden könnten. Entsprechend unterstützt die DSAG alle Partner dabei, die besten Optionen für die Branche und gegebenenfalls eine Nachfolgelösung für IS-H zu erarbeiten. Der Schulterschluss mit Partnern wurde bereits gesucht und die Entwicklung einer Architektur für die Zeit nach der Abkündigung auf die Agenda gesetzt.
Und wie sieht der zeitliche Horizont aus? Die Lösungen sollten ab 2024 verfügbar sein – genauso wie die entsprechenden Ressourcen, um sie schnell umsetzen zu können.
Was muss eine IS-H-Nachfolgelösung leisten?
- Die Lösung muss zukunftssicher sein und zu wirtschaftlich vertretbaren Kosten angeboten werden. Die Kosten dürfen sich im Hinblick auf die bestehenden Systeme nicht wesentlich erhöhen.
- Ein neues Patienten-Management mit Patientenadministration und -abrechnung auf der S/4HANA-Plattform sollte vollintegriert im lokalen S/4HANA-System bereitgestellt werden können.
- Die Länderspezifika müssen enthalten bleiben, wie z. B. der Datenaustausch nach §§ 301, 302 SGB V oder die Anforderungen an die Telematik-Infrastruktur (TI).
- Die Nachfolgelösung muss eine Migration aus dem existierenden Datenmodell sicherstellen sowie funktionale Mängel in der Nutzerfreundlichkeit beheben und die immer komplexer werdenden Abrechnungsvorschriften einfach abbilden.
- Die Schnittstellen müssen so bereitgestellt werden, dass eine Integration zu jedem beliebigen KIS – und insbesondere auch zu i.s.h.med – mit dem bestehenden Umfang möglich ist.
- Die Schnittstellen zu Dritt-Software-Lösungen, wie z. B. für die Kodierunterstützung, das Reklamations-Tool, OPS-Collector, Datenträgeraustausch gemäß §§ 301, 302 SGB V und DALE-UV müssen weiter ohne großen Zusatzaufwand zu bedienen sein.
- Die gesetzlichen Anforderungen, z. B. der PPUGV, PPRL, PPR2.0, QS-Dokumentation, die nicht nur das Modul IS-H betreffen, müssen von KIS-Herstellern bereitgestellt werden. Hier braucht es eine enge Verzahnung von administrativen und klinischen Prozessen, so wie sie zwischen den Modulen IS-H und i.s.h.med besteht. Zudem müssen Entwicklungskapazitäten sichergestellt sein, um gesetzliche Anforderungen zeitnah umzusetzen.
- Die Lösung muss Plausibilitätsprüfungen und Logiken, wie z. B. Ausschlüsse in Abhängigkeit der erfassten Daten, einfach und kundenindividuell abbilden.
- Krankenhäuser und Kliniken sind heute von IS-H in Form von Customizing/BAdIs eine Flexibilität gewöhnt, die durch Erweiterungen auch bei einer Nachfolgelösung gegeben sein sollte. Dies ist wichtig, da es viele Abrechnungsformen gibt und keine Standards.
„Nur so können wir mit der Umsetzungsplanung für die Einrichtungen im Gesundheitswesen beginnen. Wir brauchen verbindliche Zusagen möglicher Partner“, fordert Christoph Wuczkowski, und Tatjana Neitz-Kluge ergänzt: „Das hat massiven Einfluss auf die Transformations-Roadmaps der Kund :innen, für die eine Investitions- und Planungssicherheit gewährleistet sein muss. Sofern der On-Premise-Weg gegangen wird, muss es auch über 2040 hinaus für S/4HANA bzw. eine Nachfolgelösung, eine On-Premise-Verfügbarkeitsgarantie geben.“ Darüber hinaus muss SAP die Partnerunternehmen intensiv unterstützen. Interessant ist auch, wie und ob es SAP gelingen wird, seiner eigenen Vorgabe zu folgen und den S/4HANA-Kern „sauber“ zu halten. Gleichzeitig hat die DSAG ein Auge auf die Themen Lizenzierung und Wartung für einen möglichen IS-H-Nachfolger. Hier sollte SAP zeitnah pragmatische Lösungsvorschläge machen.
Arbeitskreis Healthcare
Mit seinen fast 900 Mitgliedern rückt der Arbeitskreis Healthcare die Themen Patientenversorgung und betriebswirtschaftliche Effizienz in den Fokus. Dabei erfordert das Spannungsfeld zwischen Innovationen und kurzfristigen gesetzlichen Anforderungen die enge Zusammenarbeit mit SAP und weiteren Software-Anbietern wie Oracle Cerner.
Stichwort: Migration
Hinsichtlich der Migration einer neuen IS-H-Lösung nach S/4HANA steht weit oben auf der Liste der Anwender:innen, dass der Migrationsaufwand so gering wie möglich sein und eine Nachfolgelösung Innovationen und verbesserte Funktionalitäten bieten sollte. „Damit der Aufwand der IS-H-Neuimplementierung überschaubar bleibt und kein jahrelanger paralleler Betrieb vom IS-H in einem SAP-ERP-Central-Component-System nötig ist, muss es eine Lösung für die Übernahme bestehender Abrechnungsdaten geben, da Rechnungen bis zu sieben Jahre nach Rechnungslegung storniert und neu fakturiert werden können“, so Tatjana Neitz-Kluge. Damit die Anforderungen frühzeitig gehört werden, steht die DSAG bereits im Austausch mit den relevanten Herstellern und deren Partnern, um tragfähige Lösungen für die Herausforderungen zu identifizieren.
Arbeitsgruppe Gesundheitswesen Österreich – SAGA
Für spezifische Themen, die das Gesundheitswesen in Österreich betreffen, bietet die DSAG eine länderspezifische Arbeitsgruppe. Mit fast 130 Mitgliedern vertritt sie alle öffentlich finanzierten Krankenanstalten Österreichs, sowohl gegenüber dem Lokalisierungspartner als auch weiteren Stakeholdern, die neue Anforderungen an das Gesundheitswesen in Österreich stellen.
Bildnachweis: DSAG, iStock+Daniella Winkler
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